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Leben in einer überreizten Gesellschaft

in Predigten 23.09.2016 21:31
von Hemma • 589 Beiträge

Leben in einer überreizten Gesellschaft
Stressfaktoren im digitalen Zeitalter


Neue Möglichkeiten

Immer mehr Menschen stehen in unserer Zeit andauernd im Stress, und viel Hektik belastet sehr oft die Menschen, sodass sie krank werden. Verrückt ist die Welt, in der die Menschen leben, wo nichts schnell genug gehen kann und alles immer komplizierter wird.
So sehr die Digitalisierung dazu viel beiträgt, so sehr eröffnet sie aber auch viele Möglichkeiten und neue Chancen. Vieles muss der Mensch in unserer Zeit gleichzeitig schaffen, weil vieles nicht warten kann; das treibt die Menschen ständig an.
Obwohl die Computerisierung das Leben des Menschen bereichert, und manches dadurch auch einfacher wird, müssen wir uns trotzdem sehr grundsätzlich die Frage stellen, ob wir überhaupt die Technik noch beherrschen oder ob die Technik nicht längst uns beherrscht. Wir müssen deshalb schon auch zur Vorsicht mahnen, weil keiner im Moment genau sagen kann, welche Folgen der digitale Transformationsprozess langfristig für das Zusammenleben der Menschen haben wird. Umso wichtiger ist es, dass sich heute jeder mit den Medien ganz persönlich auseinandersetzt, um in Zukunft noch persönlich sein Leben überhaupt und vor allem aus dem Glauben gestalten zu können.


Stille als Ausweg

Es ist eine Flut von Reizen, die täglich auf jeden von uns niederprasselt. Rund um die Uhr werden wir mit Eindrücken und mit Informationen gefüttert und voll gepumpt. Internet, Radio, Fernsehen, Smartphones – um nur die Speerspitze medialer elektronischer Entwicklungen zu nennen.
Wie kann man sich all dessen erwehren?
Eines ist schon klar, dass der, der sich dem Informationsstrom konsequent verweigert, ins „Aus“ geht. So wichtig es heute sein mag, dass jeder immer erreichbar ist, so schwer ist es sich der permanenten Informationsflut zu entziehen. Wir Menschen brauchen ganz entscheidend die Stille, damit wir wirklich überleben können.
Wer heute in Kaufhäuser geht und in Supermärkte kommt, sieht gnadenlos und pausenlos die Bildschirme flimmern. Da selbst öffentliche Plätze stets informieren, darf niemand glauben, er könne dem entfliehen, indem er in die Unterwelt der großen Städte hinabsteigt. Ziehen doch in jeder U-Bahn-Haltestelle Nachrichten und Werbespots auf großflächigen Bildschirmen die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich. Überall hält uns die Reklame den ganzen Tag in Trab. Und wenn dann jemand das Internet nützt, um zu lesen, dann leuchtet auch da die Werbung auf, um rundum wirksam die Sinne des Menschen anzusprechen.


Fatale Folgen

Ist es etwa verwunderlich, dass dadurch unsere Sinne überfordert werden, sodass sich Überreizung, Erschöpfung, Zwangsgedanken und depressive Verstimmungen einstellen? Ja, unsere Gesundheit erscheint durch diese chronische Reizüberflutung massiv beeinträchtigt. Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit, übertriebener Aktionismus, Kopfschmerzen, Aggressivität, Erschöpfung bis hin zur ausgeprägten Depression bestimmen den digitalen Alltag vieler Europäer.
Obwohl die Menschen Fortschritt wollen, merken sie nicht, dass sie dringend Atempausen brauchen. Traurig werde ich, wenn dann klar wird, worum es wirklich geht: nicht nur um den Fortschritt, sondern auch um die Abschöpfung von Gewinnen. Weil nicht mehr die ganzheitliche Würde des Menschen im Vordergrund steht, sondern die Leistungsfähigkeit der „Arbeitskraft“ zuvorderst steht, wird alles ständig „verbessert“ und gesamtmenschliche Werte und der Mensch selbst gehen verloren.
Im Bann dieses Optimierungsbestrebens entwickelt sich die Informationstechnologie in großen Schritten weiter, ohne dass gefährliche Einseitigkeiten erkannt werden. Der Mensch, losgelöst von Natur und Welt, verwandelt sich zum virtuellen Monster, das ständig abgelenkt und in die Irre geführt wird. Der Diabolos, der alles durcheinander wirft, leistet ganze Arbeit.
Eine Gesellschaft, die sich nicht mehr an feste Grundsätze hält, läuft Gefahr, sich aufzulösen. Deshalb wird man heute Papst Benedikt XVI. besser verstehen, der früher schon vor einer Reizüberflutung durch die modernen Medien gewarnt und zu einer größeren Wertschätzung der Stille und des Schweigens aufgerufen und gemahnt hat. Besonders im Internet, so machte es der Papst bereits vor Jahren klar, wird der Mensch mit Antworten auf Fragen bombardiert, die er eigentlich nie gestellt, und auf Bedürfnisse, die er persönlich nicht gekannt hat.


Sammlung und Gebet

So massiv in unserer Zeit Gedanken auf uns einstürmen, so deutlich müssen wir sehen, dass dagegen nur das kontemplative Gebet aufkommen kann. So waren es in der Vergangenheit Mystiker wie Johannes vom Kreuz oder Teresa von Avila, die uns das betrachtende Gebet vor Augen geführt haben, das geprägt ist von der Ausrichtung auf Jesus Christus und getragen von Hingabe und Liebe in der ganz intimen Beziehung zwischen dem Beter und Gott.
Gebet und Sammlung, die von Christus ausgehen und zu ihm hinführen, befreien nicht nur aus Alltagsstress und Reizüberflutung, sondern sie helfen uns, dass wir das Herz in die Gegenwart Gottes zurückbringen. Ich denke in diesem Zusammenhang an die absolute Stille, wo der Mensch ohne Wort, ohne Bild und ohne Begriff betet.
Gibt es also etwas Schöneres, als in der Gegenwart Gottes zu leben, zu schweigen und auch innerlich still zu werden? Erst wenn wir Gedanken und Gefühle loslassen, das Herz immer wieder zu Gott zurückbringen, geht unser Ich, das sich ständig in die Mitte drängt, zugrunde, damit der erlöste Mensch entstehen kann.


Sehnsucht nach Gemeinschaft und Geborgenheit


Auch Papst Franziskus kennt die Gefahren der Reizüberflutung. In seiner Botschaft zum 48. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel hat das Kirchenoberhaupt in einer sehr klaren Analyse geschrieben:
„Wir leben heute in einer Welt, die immer kleiner wird und in der es folglich leicht sein müsste, dass die Menschen einander zum Nächsten werden.“ Doch obwohl die Welt ein globales Dorf geworden ist, gibt es innerhalb der Menschheitsfamilie gefährlich ausgeprägte Spaltungen, vor allem dort, wo wir auf globaler Ebene den skandalösen Abstand zwischen dem Luxus der Reichsten und dem Elend der Ärmsten feststellen. Und dies umso schlimmer, wenn wir daran denken, dass in jedem Menschen eine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Heimat und nach Gemeinschaft liegt. Menschen müssen bereit werden, auf einander zu hören und voneinander zu lernen. Und schließlich betont Papst Franziskus: „Die Verbindung durch das Netz muss begleitet sein von einer wirklichen Begegnung.“
Ganz entgegen dem, dass der Mensch zur Ruhe kommen und die Stille finden will, wollen die Medien für Aufregung und nicht für Ruhe sorgen. Während zentrale Aussagen, die den Menschen betreffen, gern an den Rand gedrängt werden, klopft man leider auch religiöse Autoritäten nur nach spektakulären Auffälligkeiten ab oder legt ihnen solche in den Mund. Nun brauchen sich gerade Katholiken selbst dadurch nicht verunsichern lassen, denn wer dich heute um Klarheit für sein Leben müht, sucht oft schon instinktiv nach Orten der Stille, wie Jesus immer wieder die Stille gesucht hat. Dabei hatte es Jesus sicher leichter, weil er ohne Handy und Smartphone war und so viel Zeit für besinnliche Phasen hatte.


Angebot

Wer nun glaubt, dass das heute nicht geht, der irrt. Wer von uns einmal schon erfahren hat, was Stille bedeutet, der weiß, wovon ich rede. Einige Besinnungsstunden oder ein Besinnungstag sind beispielsweise Hilfen, damit der Mensch aus der ichzentrierten Beschäftigung mich sich selbst zu einer wortlos-schweigenden Ausrichtung auf Gott hin findet. Wer das oder ähnliches schon einmal versucht hat, bleibt auf Gott ausgerichtet, der allein die Mitte unseres Lebens und der letzte Seelengrund unseres Ichs ist. Dieser Weg, wo die Wahrheit deutlich zu Tage kommt, erschließt sich demjenigen, der sich für den Glauben öffnet und sich wie Jesus für die Zeit der Stille entscheidet, obwohl er vielerlei Dienste und Pflichten erfüllen müsste.
Wo der Mensch die universale Berufung zur Fülle der Gemeinschaft mit Christus erfährt, wird er in allem menschlichen Tun Gott begegnen können. So wird der Christ zum Meister des inneren Lebens durch beständiges Gebet, demütigen Verzicht und beharrliche Arbeit. Und dann wird die Welt klein, wo die Liebe groß wird. Dann braucht es eine Kirche, der es gelingt, Wärme zu vermitteln und die Herzen der Menschen zu entzünden. Und Papst Franziskus sagt: „Christliches Zeugnis gibt man nicht dadurch, dass man die Menschen mit religiösen Botschaften bombardiert, sondern durch den Willen, sich selbst den anderen zu schenken.“ So bedeutet „Kommunizieren“ also, sich bewusst machen, dass wir Mitmenschen und zugleich Kinder Gottes sind. Gesund bleibt, wer das Handy öfter einmal gegen die Stille eintauscht.
Experten der Stillen müssen die Christen in unserer Zeit werden, damit sie dem anderen helfen können. So werden sich auch unsere Kirchen wieder füllen.

Aus „Das Neue Groschenblatt“, Nr. 9 Sept. 2016
Red.: Pfarrer Dr. Gerhard Maria Wagner

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