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Die Tugenden der Ehetauglichkeit - Prof. Georg May

in Predigten 04.01.2018 11:22
von Simeon • 459 Beiträge

http://www.glaubenswahrheit.org/predigte.../2017/20170108/

Die Tugen­den der Ehe­taug­lich­keit
8. Januar 2017

Im Namen des Vaters und des Soh­nes und des Hei­li­gen Geis­tes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir bege­hen heute das Fest der Hei­li­gen Fami­lie. Und da rich­tet sich unser Blick selbst­ver­ständ­lich auf Ehe und Fami­lie in unse­ren Ver­hält­nis­sen. Für die Ehe­schlie­ßung wer­den viele – und manch­mal sehr kost­spie­lige – Vor­be­rei­tun­gen getrof­fen, aber die wich­tigste, die uner­läss­li­che Vor­be­rei­tung für die Ehe, näm­lich dass man sich ehe­fä­hig macht, die bleibt häu­fig, viel­leicht sogar in den meis­ten Fäl­len aus. Dass man näm­lich die Eigen­schaf­ten und Ver­mö­gen in sich aus­bil­det, die für das Zusam­men­sein und für das Zusam­men­blei­ben uner­läss­lich sind. Wer hei­ra­ten und eine Fami­lie grün­den will, muss bestimmte Tugen­den besit­zen. Sie sind die unent­behr­li­che Grund­lage für die Zwei­sam­keit und die Gemein­schaft. Tugend ist eine Fer­tig­keit des Wil­lens zum Guten, die durch Wie­der­ho­lung und Übung gewon­nen wird. Fer­tig­keit ist Geschick­lich­keit, Gewandt­heit, Geübt­heit, Pra­xis. Ich möchte Ihnen, meine lie­ben Freunde, einige für die Ehe uner­läss­li­che Tugen­den heute vor­füh­ren. An der Spitze aller not­wen­di­gen Qua­li­tä­ten sollte die Selbst­be­herr­schung ste­hen. Kein mensch­li­ches Leben kann gelin­gen ohne Selbst­be­herr­schung. Selbst­be­herr­schung ist die Fähig­keit, Bereit­schaft und Hal­tung, das Äußern eige­ner Triebe, Gefühle und Begier­den zuguns­ten der Beob­ach­tung und Erfül­lung von Zwe­cken, ethi­schen Nor­men und funk­tio­na­len For­de­run­gen zurück­zu­stel­len und ein­zu­schrän­ken. Man kann kurz sagen: Selbst­be­herr­schung ist die Tugend des Maß­hal­tens. Beherrscht ist, wer sei­nen Kör­per und seine Seele voll­kom­men in der Gewalt hat. Selbst­be­herr­schung besagt die Herr­schaft des Men­schen über seine Kräfte und Sinne. Er soll sie ver­wen­den nach Maß­gabe der Ver­nunft. Das gilt zunächst für das eigene Leben, aber auch und erst recht für den Umgang mit ande­ren. Selbst­be­herr­schung braucht es zumal dann, wenn Men­schen auf engem Raume zusam­men­le­ben und ein Leben zusam­men­blei­ben sol­len, wie es in der Ehe und Fami­lie der Fall ist. Ohne Selbst­be­herr­schung kann eine Ehe und eine Fami­lie nicht gedei­hen. Selbst­be­herr­schung for­dert stän­dige Selbst­kon­trolle. Selbst­kon­trolle ist die Fähig­keit, die Befrie­di­gung aktu­el­ler Bedürf­nisse wert­ori­en­tiert auf­ge­ben oder zurück­stel­len zu kön­nen. Selbst­be­herr­schung beginnt beim Gebrauch der Zunge. Wer Selbst­be­herr­schung gelernt hat, mei­det vie­les, allzu vie­les Reden, drängt sich beim Reden nicht vor, ver­sagt sich man­che Unter­hal­tung, spricht von sich selbst nur bei Not­wen­dig­keit, fällt nicht ande­ren ins Wort, wählt seine Worte und hütet sich vor unbe­dach­tem Reden. Selbst­be­herr­schung ist gefor­dert bei der Befrie­di­gung des Trie­bes zur Ernäh­rung. Wer Selbst­be­herr­schung übt, ver­mei­det es, außer der gebüh­ren­den Zeit zu essen, nimmt die Spei­sen nicht gie­rig zu sich, ver­langt nicht nach Lecker­bis­sen, tadelt nicht vor­ge­setzte Spei­sen, über­nimmt sich nicht im Essen oder Trin­ken. Die Selbst­be­herr­schung muss sich vor allem bewäh­ren bei unvor­her­ge­se­he­nen, unan­ge­neh­men, ärger­nis­er­re­gen­den Vor­komm­nis­sen. Jeder­zeit kann Schlim­mes, Pein­li­ches, Ver­drieß­li­ches über uns kom­men. Der Mensch ohne Selbst­be­herr­schung reagiert erregt, auf­ge­regt, unwil­lig, und das zum eige­nen Scha­den und zur Belas­tung sei­ner Umge­bung. Der beherrschte Mensch zwingt sich auch bei pein­li­chen Vor­komm­nis­sen zur Ruhe, prüft die Lage, ver­schließt sei­nen Mund vor vor­ei­li­gem Reden.

Der Gegen­satz zur Selbst­be­herr­schung ist das Sich-gehen-las­sen. Wer die For­men der Ord­nung und der Zucht nicht beach­tet, der lässt sich gehen. Sich gehen las­sen tritt auf in der unge­ord­ne­ten Anhäng­lich­keit an die Triebe. Bei dem einen ist es Speise und Trank, beim ande­ren der Schlaf, das Rau­chen, wie­der bei einem ande­ren sind es die Bequem­lich­kei­ten. Das Sich-gehen-las­sen kann sich auch in der Nach­läs­sig­keit der Kör­per­pflege und der Haar­pflege äußern, in der Klei­dung und in den Ess­ge­wohn­hei­ten. Man muss sich stets gesit­tet ver­hal­ten, auch in der Woh­nung, auch im Schlaf­zim­mer und im Bade­zim­mer. Man darf sich nicht unge­niert ver­hal­ten gegen­über ande­ren Men­schen, auch nicht und schon gar nicht gegen­über den Haus­ge­nos­sen. Mir sagte ein­mal ein Pries­ter: „Ich habe meine Mut­ter nie im Unter­rock gese­hen.“ Das Sich-gehen-las­sen ver­rät man­gelnde Ach­tung und Rück­sicht­nahme gegen­über ande­ren Men­schen, vor allem gegen­über nahe­ste­hen­den. Diese emp­fin­den das Ver­hal­ten als unschick­lich, takt­los, unwür­dig. Ein sol­ches unge­nier­tes Ver­hal­ten trägt den Keim des Zer­würf­nis­ses in eine Ver­bin­dung. Ehe­gat­ten müs­sen sich zusam­men­neh­men. Sie müs­sen dar­auf bedacht sein, vor dem schar­fen Blick des ande­ren beste­hen zu kön­nen, müs­sen sich stets unter Kon­trolle hal­ten, um dem ande­ren nicht zu miss­fal­len, um ihm nicht Anstoß zu geben.

Wir schul­den ein­an­der Ach­tung. Ach­tung ist eine Grund­hal­tung, die aus der Aner­ken­nung der unver­letz­li­chen Würde des Men­schen her­vor­geht und im Mit­men­schen die Frei­heit der Selbst­be­stim­mung respek­tiert. Ach­tung ist vor allem in der Ehe not­wen­dig. Ich habe Ihnen schon ein­mal aus einem Brief zitiert, den die Kai­se­rin Maria The­re­sia, Mut­ter von 16 Kin­dern, an ihre Toch­ter Chris­tine geschrie­ben hat. „Die törichte Liebe ver­geht“, schreibt sie, „aber man muss ein­an­der ach­ten und die­nen.“ Die Ach­tung in der Ehe darf sich nicht abschlei­fen. Das nahe Bei­sam­men­sein und das intime Sich-ken­nen ber­gen die Gefahr, dass die Ach­tung vor­ein­an­der ver­lo­ren­geht. Die Ach­tung muss in jedem Sta­dium der Ent­wick­lung und unter allen Ver­hält­nis­sen gewahrt blei­ben. Wenn Mann und Frau, die ja Tag und Nacht bei­sam­men sind, die Ach­tung vor­ein­an­der ver­lie­ren, den Anstand bei­sei­te­set­zen, dann wird ihre Ver­trau­lich­keit bald zur Gemein­heit und zum Ekel.

Die Ach­tung muss den Umgang mit­ein­an­der prä­gen. Sie gebie­tet die Höf­lich­keit. Höf­lich­keit ist die Form des Umgangs mit den Mit­men­schen, die von gegen­sei­ti­ger Ach­tung, Rück­sicht­nahme und Ein­hal­tung bestimm­ter gesell­schaft­li­cher Übun­gen geprägt ist. Ehe­gat­ten und alle Glie­der der Fami­lie sol­len ein­an­der höf­lich begeg­nen. Vom hei­li­gen Tho­mas Morus, dem Lord­kanz­ler von Eng­land, wird berich­tet, dass er jedes Mal, bevor er das Haus ver­ließ, sei­nen Vater kni­end um den Segen gebe­ten habe. Höf­lich­keit gebie­tet zum Bei­spiel, dass man sich am Mor­gen begrüßt und einen Abschieds­gruß am Abend spricht. Höf­lich­keit bit­tet auch um Selbst­ver­ständ­li­ches. Höf­lich­keit dankt auch für selbst­ver­ständ­li­che Dinge. Höf­lich­keit kommt dem ande­ren zuvor, ist auf­merk­sam auf seine Bedürf­nisse, mün­det in Hilfs­be­reit­schaft aus. Höf­lich­keit kos­tet wenig und bewirkt viel.

Der Höf­lich­keit benach­bart ist die Geduld. Die Geduld besteht darin, dass man geneigt ist, die Lei­den die­ses Lebens in Got­tes Wil­len erge­ben zu ertra­gen. Geduld muss von den Men­schen gegen­ein­an­der bewie­sen wer­den. Wir müs­sen Geduld mit­ein­an­der haben: mit dem Anders­sein, mit dem Anders­ver­hal­ten, mit dem Anders­den­ken des Mit­men­schen. Der Apos­tel Pau­lus for­dert im Brief an die Gala­ter auf: „Einer trage des ande­ren Last.“ Einer soll aber auch die Last tra­gen, die der andere bedeu­tet. Jeder Mensch hat näm­lich etwas zu Tra­gen­des, ja etwas Uner­träg­li­ches an sich. Jeder Mensch hat etwas an sich, was ande­ren läs­tig ist: Eigen­hei­ten, Eigen­schaf­ten, Ange­wohn­hei­ten, die ande­ren unan­ge­nehm, wider­wär­tig und uner­träg­lich schei­nen. Wir kön­nen den ande­ren nicht ändern. Wir sind ja nicht ein­mal fähig, uns selbst zu dem Men­schen zu machen, der wir gern sein wür­den, um wie viel weni­ger kön­nen wir den ande­ren ändern. Aber wir müs­sen Geduld mit ihm haben. Die Unge­duld bezieht sich fast immer auf die Zeit. Ent­we­der ist es die Zeit­spanne, die sich vor die Erfül­lung eines hef­ti­gen Wun­sches ein­schiebt, oder es ist die Unaus­ge­füllt­heit einer Zeit­spanne als sol­che, die unsere Unge­duld erregt. Die Unge­duld kann sich auch auf die Zeit­dauer eines Übels bezie­hen. Das Andau­ern von Schmer­zen kann unge­dul­dig machen. Die Aus­deh­nung lang­wei­li­ger Gesprä­che, eine läs­tige Inan­spruch­nahme durch andere Men­schen, das macht uns leicht unge­dul­dig. Geduld ist vor allem nötig ange­sichts der Emp­find­lich­keit der Men­schen. Nach mei­nem unmaß­geb­li­chen Urteil sind alle Men­schen emp­find­lich; ver­schie­den ist nur das Maß der Emp­find­lich­keit. Emp­find­lich­keit bezeich­net die Ein­tritts­schwelle eines Rei­zes. Je schwä­cher die Reize sind, die eine Ant­wort aus­lö­sen, umso grö­ßer ist die Emp­find­lich­keit. Emp­find­li­che Men­schen sind bei jeder Gele­gen­heit gekränkt, füh­len sich zurück­ge­setzt, nicht genü­gend beach­tet oder lieb­los behan­delt. Wenn man um die Emp­find­lich­keit eines Men­schen weiß, dann muss man ihn mit gestei­ger­ter Auf­merk­sam­keit behan­deln, sei­nen Bedürf­nis­sen abhel­fen, ohne dass man auf­ge­for­dert wird, seine Wün­sche erfül­len, ohne dass man gebe­ten wird. Emp­find­li­che Men­schen brau­chen viel Für­sorge, Auf­merk­sam­keit, Rück­sicht, Scho­nung. Der Emp­find­li­che frei­lich muss sich auch bemü­hen, näm­lich über seine Emp­find­lich­keit hin­weg­zu­kom­men. Er muss an sich arbei­ten, dass er nicht jeden Blick, jedes Wort, jede Hand­lung zum Anlass nimmt, ein­ge­schnappt zu sein. Er muss sich vor­neh­men, viel zu über­se­hen, zu über­hö­ren, ohne zu reagie­ren. Der Emp­find­li­che muss ler­nen, etwas weg­zu­ste­cken, den Reiz unbe­ant­wor­tet zu las­sen, sich so zu ver­hal­ten, als wäre nichts gesche­hen.

Gegen­sätz­li­che Anschau­un­gen und Vor­ha­ben zwi­schen zwei Men­schen sind keine Kata­stro­phe. Von Kon­rad Ade­nauer stammt das schöne Wort: „Wenn zwei Men­schen immer über­ein­stim­men, sind sie wahr­schein­lich beide nichts wert.“ Aber bei vie­len Din­gen kön­nen Gegen­sätze nicht beste­hen blei­ben; man muss sich eini­gen. Den­ken wir etwa an die Gestal­tung des Sonn­tags bei einem Ehe­paar: Der eine will aus­fah­ren, der andere will daheim blei­ben. Ja da muss man sich eini­gen, einer muss nach­ge­ben. Ich kenne Ehe­paare, wo die Frau nicht will, was der Mann will, und was der Mann will, die Frau nicht will. Die Eini­gung kann nur dadurch gefun­den wer­den, dass der eine dem Plan des ande­ren zustimmt, dass man also nach­gibt, und das muss gesche­hen ohne Ver­bit­te­rung und ohne Groll. Man muss nach­ge­ben aus Ein­sicht oder um des Frie­dens wil­len. Eine Ehe ohne den Wil­len zum Nach­ge­ben kann nicht gelin­gen. Das sture Behar­ren auf der eige­nen Ansicht oder dem eige­nen Wunsch spal­tet und ver­gif­tet die Ehe. Es hilft wenig, wenn einer sich dar­auf beruft: Das ist mein Recht. Es mag ja sein, dass es sein Recht ist, aber was nützt es, wenn der andere es nicht ein­sieht. In vie­len Fäl­len ist es Gott wohl­ge­fäl­li­ger, auf das eigene Recht zu ver­zich­ten. Wer nicht nach­ge­ben kann, wer nicht nach­ge­ben will, ist eheun­taug­lich. Nach­gie­big­keit und Nach­sicht sind enge ver­wandt. Die Nach­sicht besteht in der Geneigt­heit, Feh­ler und Ver­säum­nisse zu über­se­hen, dar­über hin­weg­zu­ge­hen, als ob nichts gewe­sen wäre, oder sie wenigs­tens milde zu beur­tei­len, sie nicht zum Gegen­stand schar­fen Tadelns oder gar der Bestra­fung zu machen. Eine ganz üble Ange­wohn­heit ist es, immer wie­der auf ver­gan­gene Feh­ler, Schwä­chen und Unzu­läng­lich­kei­ten des ande­ren zurück­zu­kom­men. Ein sol­ches Ver­hal­ten hält Wun­den offen oder schlägt neue Wun­den. Ein sol­ches Ver­hal­ten ver­hin­dert den Wie­der­auf­bau eines ver­trau­en­den Ver­hält­nis­ses. Ebenso schlimm ist es, wenn ein Miss­griff des einen vom ande­ren zum Anlass genom­men wird, ihm seine all­ge­meine Unzu­läng­lich­keit vor­zu­hal­ten, wenn also ein Feh­ler ver­all­ge­mei­nert wird – eine ganz üble Ange­wohn­heit. Hier wer­den alte Rech­nun­gen begli­chen, hier wird ein ange­stau­ter Groll los­ge­las­sen, und bei­des ist von ver­derb­li­cher Aus­wir­kung.

Eine uner­läss­li­che Tugend in der Ehe ist die Dank­bar­keit. Wir sol­len dank­bar sein, d.h. die emp­fan­ge­nen Wohl­ta­ten aner­ken­nen und nach Mög­lich­keit ver­gel­ten. Selbst­ver­ständ­lich soll jeder für große offen­sicht­li­che Geschenke dank­bar sein und dies durch Dank­sa­gung aus­drü­cken. Es ist eine Pflicht der Ehr­lich­keit und auch eine Pflicht der Höf­lich­keit, dem Wohl­tä­ter die Gesin­nung und die Tat der Ver­gel­tung zu erwei­sen. Man soll aber auch dan­ken für Selbst­ver­ständ­li­ches, für die zahl­lo­sen klei­nen Dienste, die Men­schen ein­an­der erwei­sen. Die Dank­sa­gung, die wir dafür abstat­ten, zeigt die Auf­merk­sam­keit und die Zufrie­den­heit für die erwie­se­nen Ver­rich­tun­gen und Gefäl­lig­kei­ten an. Wer alles, was geschieht, als natür­lich, als all­täg­lich, als üblich, als selbst­ver­ständ­lich ansieht, der ver­letzt das Fein­ge­fühl des ande­ren und nimmt ihm die Freude am Gutes­tun.

Wenige Tugen­den, meine Freunde, sind so hilf­reich und auch so not­wen­dig wie die Demut. Demut ist die Aner­ken­nung von Got­tes Herr­lich­keit und unse­rer eige­nen Nich­tig­keit. Der Demü­tige rühmt sich nicht eige­ner Vor­züge, er genießt diese Vor­züge nicht. Er fühlt sich viel­mehr unwür­di­ger und sün­di­ger als andere Men­schen. Er begibt sich an einen Platz, der noch unter­halb des­sen ist, auf den er natür­li­cher­weise Anspruch erhe­ben kann. Er fühlt sich nicht bes­ser und über­le­gen über andere. Wenn der demü­tige Mensch einen ande­ren Men­schen abstür­zen sieht, dann denkt er bei sich: Wer weiß, wo ich stünde, wenn ich den Gefah­ren aus­ge­setzt gewe­sen wäre wie die­ser. Demut ist Mut zu die­nen. In der Ehe, in der Fami­lie muss jeder die Bereit­schaft haben, dem ande­ren oder den ande­ren zu die­nen. Ehe und Fami­lie sind Dienst­ge­mein­schaf­ten. Es kann in einer Zwei­er­ver­bin­dung eine Über­le­gen­heit des einen über den ande­ren geben. Sie kann intel­lek­tu­ell, ethisch, manu­ell, mate­ri­ell sein. Aber worin sie auch beste­hen mag: Man darf seine Über­le­gen­heit über andere nicht aus­spie­len, man darf sie den ande­ren nicht spü­ren las­sen. Es ist roh und ver­let­zend, die Unter­le­gen­heit des ande­ren aus­zu­nüt­zen, um ihn zu demü­ti­gen. Je nied­ri­ger ein Wert steht, umso törich­ter ist es, sich auf die eigene Über­le­gen­heit zu beru­fen. Der Demü­tige braucht kei­nen Wider­stand zu über­win­den, um sich dem ande­ren unter­zu­ord­nen. Mit einem Demü­ti­gen ist es schwie­rig, Streit zu bekom­men, weil er bereit ist zum Nach­ge­ben. Es bedrückt ihn nicht, in Dan­kes­schuld zu ste­hen. Er wird in sei­nem Frie­den nicht gestört, wenn er sich in der schwä­che­ren Posi­tion einem ande­ren gegen­über befin­det. Es fällt ihm nicht schwer, ein Ver­sa­gen, ein Unrecht ein­zu­ge­ste­hen und um Ver­zei­hung zu bit­ten. Wenige Hal­tun­gen füh­ren so leicht zur Ver­söh­nung wie die Demut. Ein Mensch, der sich wegen sei­ner Feh­ler demü­tigt, ist leicht imstande, andere zu besänf­ti­gen und denen Genug­tu­ung zu leis­ten, die ihm zür­nen.

Ich habe ver­sucht, meine lie­ben Freunde, einige der Tugen­den Ihnen vor Augen zu füh­ren, die für die Ehe und die Fami­lie uner­läss­lich sind. Nicht jedem sind diese Tugen­den aner­zo­gen wor­den. Die Erzie­hung ist gewiss in ers­ter Linie Auf­gabe der Eltern. Sie sol­len ihre Kin­der zu brauch­ba­ren, nütz­li­chen Glie­dern von Gesell­schaft und Kir­che her­an­bil­den. Sie sol­len wei­ter­ge­ben, was sie selbst emp­fan­gen haben an Gesin­nun­gen und Hal­tun­gen. Lei­der fällt die Erzie­hung durch die Eltern oft aus. Mir sagte ein­mal ein Herr: „Wir sind nicht erzo­gen wor­den, wir sind auf­ge­wach­sen.“ Aber wie soll jemand etwas wei­ter­ge­ben, was er selbst nicht emp­fan­gen hat? Wer selbst nicht erzo­gen wor­den ist, wie soll er andere erzie­hen kön­nen? Aber, meine lie­ben Freunde, wo die Erzie­hung durch die Eltern aus­ge­blie­ben ist, ist nicht alles ver­lo­ren. Man kann man­ches nach­ho­len, was unter­blie­ben ist. Zu der Frem­der­zie­hung kann die Selbst­er­zie­hung tre­ten. Es ist mög­lich, durch Selbst­er­zie­hung eini­ges aus­zu­glei­chen, was in der fami­liä­ren Erzie­hung unter­blie­ben ist. Der Mensch ist imstande, bei ande­ren abzu­se­hen, wie man sein und sich ver­hal­ten soll. Die gesunde Nach­ah­mung von Men­schen, die eine glück­li­chere Jugend erlebt haben und bes­ser geformt wor­den sind, ver­mag man­ches zu erset­zen, was einem in der häus­li­chen Atmo­sphäre ver­sagt geblie­ben ist. Es muss nur der ent­schie­dene und zähe Wille da sein, an sich zu arbei­ten, bis zum letz­ten Tage des Lebens. Der selige Gesel­len­va­ter Adolf Kol­ping, der durch den Umgang mit sei­nen jun­gen Män­nern eine unge­heure Erfah­rung ange­sam­melt hatte, die­ser selige Gesel­len­va­ter Adolf Kol­ping hat ein­mal geschrie­ben: „Wenn der Mann will, dass seine Frau eine sehr gute Frau sei, dann sei er vor allen Din­gen ein sehr guter Mann. Und wenn eine Frau will, dass der Mann ein sehr guter Mann sei, dann sei sie zuerst eine sehr gute Frau. Jeder von bei­den muss zuerst anfan­gen und darf ja nicht auf den ande­ren war­ten, sonst kom­men beide zu spät, viel zu spät.“

Amen.

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