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"Was kommt nach dem Krieg?" - erschütternder Brief eines ukrainischen Priesters

in Vorträge 13.07.2015 11:34
von Hemma • 589 Beiträge

Im letzten Jahr habe ich viel Leiden und Elend miterlebt und gesehen: niedergedrückte Stimmung im Lande, ansteigende Arbeitslosigkeit, drastische Verteuerung der Betriebskosten, einsetzende schwere soziale Krise, besonders für Behinderte und für Menschen, die auf Medikamente angewiesen sind.
Jeden Tag kommen Nachrichten über getötete oder schwer verwundete Soldaten und Zivilisten im Kriegsgebiet.
Ist Ihnen das Gefühl einer Entfremdung bekannt, wenn Ihnen schon immer wichtige und zu Ihnen gehörende Gedanken und Gefühle plötzlich fremd werden und nur mit dem Verstand und nicht mit der Seele begreifbar sind? Schauen, wie andere lachen und Sie selber nicht lachen können, merken, wie sich die anderen gelassen über das Tägliche unterhalten, aber sich nicht entspannen können?
So habe ich mich in den ersten Tagen des Aufenthaltes hier in Österreich erlebt. Das hat mich erschrocken, traurig gemacht und viel Wehmut im Herzen hochgebracht, Wehmut nach verlorenen Möglichkeiten für mich, meine Familie, mein Volk.

Verlorene Möglichkeiten

Das schmerzt tatsächlich sehr, zu sehen und zu verstehen, was dem Menschen in seiner Seele durch den Krieg verloren geht. Ich weine, weil ich an verlorene Möglichkeiten der jungen Menschen denke, die am 20. Februar 2014 im Zentrum der Hauptstadt von Scharfschützen erschossen wurden, bei deren noch warmen Leichen, noch mit flüssigem Blut, ich die Totenandacht gebetet habe.
Ich denke an die jungen Menschen, fast Kinder, denen ich in Kliniken vom Kiew die Krankensalbung gespendet habe – gebrochene Schädel, amputierte Körperteile, im Koma liegend, sprachlose Eltern am Bett, von eigenen Landsleuten zu Krüppeln gemacht.

Zerfetzte Körper, gebrochene Psyche

Soldaten, wer sind Soldaten? Immer einsatzbereite Kampfmaschinen? Keineswegs!
Ich weine, weil ich an ihre verlorenen Möglichkeiten denke. Noch vor ein paar Monaten waren sie jemandes Söhne mit Lebensstil, mit Träumen und Plänen, ganz gewöhnliche junge Menschen. Sie waren auch Männer und Väter, Arbeiter oder auch nicht, ganz einfache, unscheinbare Mitglieder der Gesellschaft. Und schon nach einer kurzen Zeit sind sie anders. Da stehen sie mir vor Augen: Soldaten im Feldspital im Gebiet Lugansk im Juli 2014, mit 21 erschossen im LKW liegend und auf Abflug wartend; mit zerfetzten Körperteilen im Bett, aber noch mehr mit zerrissenem Herz und gebrochener Psyche, mit der ganzen Palette sie überflutender Gefühle: Hass, Trauer, Resignation, Rachedurst, Entschlossenheit, Patriotismus und… mit vielen Fragen, die nur in den Augen bemerkbar sind, die sich „echte Männer“ nicht stellen dürfen: Warum ich? Werde ich noch einmal in den Kampf ziehen müssen? Sterbe ich jetzt?

Was kommt nach dem Krieg?

Ich blicke voraus und versuche, über die Zeit des einkehrenden Friedens nachzudenken. Ich weiß aber, dass, auch wenn die Waffen verstummen, noch lange kein Frieden da sein wird. Soldaten – sie werden nie dieselben jungen Menschen, nie dieselben Männer, Väter, Arbeiter, Mitglieder der Gesellschaft sein, weil sie die grausame Erfahrung gekostet haben, Macht über das Menschenleben zu haben. Es ist eine so große Versuchung, die Seele mit Hass zu füttern!

Ich denke an die Wandlung in Menschenseelen, die ich miterlebt habe: Ein unbedeutender Bauarbeiter wird zum Scharfschützen. Er macht seinen Job sehr gut, so gut, dass er nie mehr zum Leben eines unbedeutenden Bauarbeiters zurückkehren möchte. Bedeutend sein kann er nicht anders denn als Scharfschütze…

Ich denke an den jungen Mann, der zum Held geworden ist, weil er, sein eigenes Leben riskierend, vielen Kameraden das Leben gerettet hat und dabei ein Bein verlor. Sein Mut ist aber auf einen unfruchtbaren Boden der Seele gefallen. Ich sehe Hochmut in seinen Augen, er macht Volontäre und medizinisches Personal zu seinen Dienern. Es gefällt ihm, sich überlegen zu fühlen. So sehr gefällt es ihm, dass er wahrscheinlich nicht zögern würde, diese Überlegenheit auch mit Gewalt zu demonstrieren, wenn es notwendig wäre: Die Frage ist nur, gegenüber wem und wann? Gegenüber einem Beamten in seiner Stadt? Gegenüber einem Mitbürger in der Warteschlange? Gegenüber der eigenen Frau oder sogar den Kindern, wenn sein Heldentum in den Augen der Mitmenschen verblassen würde?

Und letztlich die Kinder. Ich schweige von den Getöteten bei Raketenangriffen oder durch Minen, da alles Ausgesprochene zum Überflüssigen wird. Aber ich spreche von denen, die am Leben geblieben sind, mit dem Stachel der Angst, mit schmerzhafter Last über die verlorenen Eltern, mit dem Joch des psychischen Traumas. Das alles macht mir klar, wie wir die Möglichkeiten verlieren, uns Schönem und Gutem in dieser Welt zuzuwenden, uns über gewöhnlich Sachen zu erfreuen, in Menschen das Gute zu sehen.

Ich danke Gott

Ich habe kein Bedauern, meine Landsleute in diesen grausamen Ereignissen spirituell zu begleiten und mit ihnen um die Heilung ihrer wunden Seelen zu ringen. Ich merke aber, dass ich zu lange auf das Böse geschaut habe und – unbemerkt für mich – den Blick vom Guten abgewendet habe. Das ist gefährlich. Ich brauche jetzt Menschen, deren Lebensfreude uns anstecken kann. Und vielleicht wird eine von vielen verlorenen Möglichkeiten doch nicht verloren sein.
Ich danke Gott, dass ich noch durch den Glauben die Hoffnung in mir lebendig halten, kann, Hoffnung, dass der liebende und allmächtige Gott noch in diesem Leben die Seelen meiner Landsleute heilen wird, und dass dadurch nicht alle Möglichkeiten für sie endgültig verloren sind. Denjenigen aber, deren Seelen abgestumpft, und die nicht mehr im Stande sind, sich für das Gute zu entscheiden, möge er dies nicht als Schuld anrechnen.

Dr. Andriy Lohin, Priester der ukrainischen griechischen-katholischen Kirche,
Krankenseelsorger und Moraltheologe
Aus "Sonntag" kath. Kirchenzeitung v. 5.Juli 2015

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