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„Ein Leben in Freiheit und Verantwortung"
Erzbischof Reinhard Kardinal Marx: Fastenhirtenbrief 2014
„Ein Leben in Freiheit und Verantwortung"
Liebe Schwestern und Brüder,
Freiheit ist ein großes Wort. Die Geschichte der Menschen ist geprägt vom Kampf um die Freiheit. Fremdherrschaft und Zwänge zu überwinden, Unterdrückung und Diktatur zu bekämpfen, sich von innerem und äußerem Druck zu befreien, all das wiederholt sich immer wieder in der Geschichte der Menschheit, der Völker, aber auch im Leben jedes Einzelnen. Der Ruf nach Freiheit, die Suche nach Freiheit, der Einsatz fir die Freiheit ist tief im Menschen verwurzelt und das wird sicher so bleiben. Auch jüngste politische Ereignisse, wie etwa die Auseinandersetzungen in der Ukraine oder in der arabischen Welt, zeigen uns, wie leidenschaftlich und intensiv der Kampf fir die Freiheit ausgefochten wird. Aber die politische Freiheit ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, die Freiheit auch wirklich zu leben. Wir dürfen dankbar sein fir unser offenes und freies Gemeinwesen. Aber wir spüren auch immer mehr, wie sehr die Freiheit uns herausfordert. Die Zwänge politischer Unterdrückung sind verschwunden. Der Druck, einer bestimmten Kultur, Religion, Familientradition folgen zu müssen, wird schwächer. Das sollten wir nicht beklagen. Aber es ergibt sich dann die Notwendigkeit, in einer Fülle von Möglichkeiten selbst zu entscheiden. Dann kann auch die schmerzliche Seite der Freiheit erfahrbar werden, die „Qual der Wahl", wir müssen uns eben mit verschiedenen Wegen auseinandersetzen. Wo wir nicht mehr in feste Ordnungen eingezwängt sind, müssen wir selbst entscheiden über unsere Lebensweise, unsere Ziele, unsere Freundschaften, unsere politischen und religiösen Überzeugungen. Die Freiheit ist Gabe und Aufgabe.
Aber genau das entspricht zutiefst dem christlichen Menschenbild. Zur Fülle des Menschseins gehört, sich in Freiheit und Verantwortung für das Gute zu entscheiden. Vielleicht ist diese Situation zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte für so viele Menschen Realität geworden. Denn auch Familie und Religion können nicht mehr von vorneherein festlegen, wie die Entscheidungen des Einzelnen ausfallen. Es gibt keine Disziplinierungsmöglichkeiten mehr, um jemanden in eine bestimmte Richtung zwingen zu können, es sei denn durch Recht und Gesetz. Wie können wir mit dieser kostbaren, aber auch anstrengenden Gabe und Aufgabe der Freiheit umgehen?
Manche wünschen sich die Zeit der Übersichtlichkeit und Klarheit zurück. Sie wollen ein klares Gerüst, das ihnen die persönliche Entscheidung abnimmt. Sie möchten lieber in übersichtlichen Verhältnissen leben und leiden an der modernen pluralen und bunten Welt, die eben auch anstrengend ist. Aber ich bin überzeugt: Es wird keine Rückkehr in übersichtliche, überschaubare, klare Verhältnisse geben. Die Freiheit, in der wir leben, wird sicher nicht wieder zurück genommen werden. Und ich sage: Hoffentlich! Es kann also nicht darum gehen, für eine Welt zu kämpfen, die wieder einfacher, klarer ist und uns die Anstrengung der Freiheit nimmt, sondern darum, in einer pluralen und vielfältigen Wirklichkeit aus dem christlichen Glauben heraus einen klaren Kopf zu bekommen und zu behalten; also im Geist des Evangeliums Freiheit in Verantwortung wahrzunehmen. Das ist der Weg, den wir als gläubige Christen gehen sollten.
Vor einigen Wochen wurde von der Deutschen Bischofskonferenz ein Text veröffentlicht, in dem die Antworten von vielen Gläubigen im Blick auf die Synode über Ehe und Familie zusammengefasst wurden. Es gab ja eine Fülle von Fragen, die uns von Rom geschickt wurden und die auch an die Pfarreien und Dekanate weitergeleitet werden sollten. Das ist auch in unserem Erzbistum geschehen. Wir haben aber auch deutlich gemacht, dass viele der Fragen schon in unserem Zukunftsforum behandelt und auch intensiv diskutiert wurden. Deshalb gehören auch diese Ergebnisse in die Antwort hinein. Der Text der Bischofskonferenz fasst in guter Weise die vielfältigen Meinungen im Volk Gottes zu Sexualität, Ehe und Familie zusammen.
In der Öffentlichkeit wurde besonders herausgestellt, dass es in diesen Fragen eine kaum zu überbrückende Diskrepanz zwischen dem Lehramt der Kirche und der Meinung der gläubigen Christen gäbe. Mir scheint diese Wahrnehmung etwas oberflächlich zu sein. Ich habe den Eindruck, dass viele nicht die grundsätzlichen lehramtlichen Äußerungen ablehnen: Katholische Christen sind nicht generell gegen die Unauflöslichkeit der Ehe oder dagegen, dass die sexuelle Begegnung in eine Beziehung hineingehört, die auf lebenslange Treue und Verlässlichkeit ausgerichtet ist. Ich erlebe es immer wieder in Gesprächen mit jungen Menschen, dass sie das eigentlich für sich selber wollen. Sie suchen das Ja-Wort, das nicht wieder in Frage gestellt wird. Sie suchen den Menschen, der für immer mit ihnen durchs Leben geht. Sie möchten nicht, dass Sexualität wie eine Ware behandelt wird, sondern Ausdruck der Liebe ist. Die meisten wünschen auch eine Familie.
Die Spannung liegt eigentlich in einem anderen Feld. Viele fragen sich: Was sagt mir die Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, wenn das Ziel, das ich mir in meinem Leben vorgenommen habe, nicht erreicht wird? Was geschieht, wenn meine Ehe, die ich nach bestem Wissen und Gewissen eingegangen bin, dann doch scheitert aus den verschiedenen Gründen? Wie antwortet die Kirche, wenn mein Leben nicht ganz so verläuft, wie ich es selber wollte, wenn es also von den eigentlich auch von mir akzeptierten Grundsätzen abweicht? Darf ich dann die Erfahrung machen, dass die Gemeinschaft des Glaubens zu mir steht? Wird meine Gewissensentscheidung für einen neuen Anfang dann respektiert? Die Grundfrage ist also nicht: Müssen wir die Lehre der Kirche zu grundsätzlichen Fragen von Sexualität, Liebe und Ehe verändern, sondern: Wie gehen wir mit der Vielfalt des Lebens und der Entscheidungen um, die manchmal dazu führen, dass das Leben nicht den Weg nimmt, den die Menschen sich vorgestellt haben? Darüber müssen wir weiter intensiv nachdenken. Denn in dieser Frage geht es zutiefst um die Herausforderung, Freiheit in Verantwortung zu leben. Deswegen wird ein wichtiger Punkt für die nächsten Jahre sein, wie wir Menschen helfen können, verantwortlich auf der Grundlage des Evangeliums und des gemeinsamen Lebens in der Kirche eine Gewissensentscheidung zu fällen, und wie die Gemeinschaft der Kirche dann mit dieser Entscheidung umgeht.
Wie kann das geschehen? Der Erste Fastensonntag gibt uns Hinweise aus der Heiligen Schrift. Von zwei Versuchungen ist die Rede. Wir hören in der Schöpfungsgeschichte vom sogenannten Sündenfall, der beginnt mit dem Misstrauen Gott gegenüber. Die Schlange stellt die Gebote Gottes ganz negativ dar und nährt damit die Zweifel der ersten Menschen, ob Gott es wirklich gut mit ihnen meint. Dass dem Menschen Grenzen gesetzt werden, wird nicht als Schutz der Freiheit, sondern als Bedrohung gesehen. Der Griff nach der verbotenen Frucht kommt aus dem Willen, die Grenze zwischen Gott und Mensch aufzuheben: Eine Freiheit zu leben, die nicht mehr gebunden, sondern nur noch auf die eigenen Bedürfnisse bezogen ist. Ganz anders die Versuchungsgeschichte im Evangelium. Jesus, der wirklich ganz freie Mensch, erlebt ebenfalls - menschlich gesprochen - die Versuchung, die Grenze zwischen Gott und Mensch zu zerstören. Denn wie in der Schöpfungsgeschichte im Grunde die Abschaffung Gottes im Blick ist, so geht es in der Versuchungsgeschichte Jesu um die Abschaffung des Menschen, um die Aufhebung der Freiheit. Aus Steinen Brot machen, zum Wundertäter werden oder alle Reiche der Welt beherrschen - das wäre im Grunde das Ende der Welt des Menschen, das Ende der Freiheit. Jesus aber will nicht die Abschaffung des Menschen, sondern die Einladung in eine neue Lebensweise. Er will ein Leben in Freiheit und Verantwortung. Er möchte Menschen ermutigen, ihm zu folgen, im Blick auf Gott den Schöpfer und Erlöser ihren Weg zu gehen, in einer freien Gewissensentscheidung.
Liebe Schwestern und Brüder, Christsein ist nicht ein Leben in einem Haus von einengenden Geboten und Verboten, sondern Ermutigung zu einem Leben in Freiheit und Verantwortung. Unsere Gewissensentscheidungen orientieren sich am Beispiel Jesu, am Leben der Heiligen, an der Lehre der Kirche. Christsein ist keine anspruchslose Existenz. Es fordert uns ganz heraus, aber es ist ein Weg in die wirkliche, wahre Freiheit. Denn wir hören ja auf den, der Ursprung und Garant unserer Freiheit ist: auf Gott selbst. Es wird darauf ankommen, in unserer Verkündigung und Evangelisierung dies deutlicher zu machen und so zu helfen, dass Menschen weiter mitgehen können in der Gemeinschaft des Volkes Gottes, auch wenn sie in ihren eigenen Lebenszielen scheitern und dann neue Wege oder auch Umwege gehen. Wirkliche Gewissensentscheidungen, die Maß nehmen am Evangelium Jesu, sind auf das Gute ausgerichtet. Aber wir wissen allzu gut, dass in unserem Leben auch Anderes passiert. Dass Schuld und Sünde, Missverständnisse, Fehler, falsche Entscheidungen uns abbringen können von dem einmal eingeschlagenen Weg. Es ist für mich immer wieder berührend, wie die Schöpfungsgeschichte nach dem Sündenfall von der Treue Gottes erzählt. Die Menschen sind einen falschen Weg gegangen, aber Gott bleibt trotzdem treu. Er kümmert sich um sie. Seine Liebe und Fürsorge endet nicht mit der Sünde des Menschen. Gott lässt nicht vom Menschen! Niemals! Das ist der Kern der Frohen Botschaft in der Schöpfungsgeschichte und das will uns auch das Evangelium des heutigen Sonntags sagen. Jesus erhebt sich nicht über uns in eine andere Welt, sondern wird unser Bruder und geht in unsere Lebenssituationen hinein und begleitet uns. Wenn wir mit ihm gehen, sind wir freie Menschen, aber wir müssen es auch immer neu werden.
Jesu Worte und Weisungen sind nicht einfach eine Ansammlung von Geboten und Verboten, sondern Hilfen, Orientierungen zu einem Weg in die wahre Freiheit. Deswegen fasst Jesus das ganze Gesetz in dem einen Hauptgebot der Gottes- und Nächstenliebe zusammen. Sein Ruf zur Umkehr ist die Einladung an uns alle, die Gabe der Freiheit nicht zu verspielen, sondern in Freiheit das Gute zu wählen und zu tun. Dazu lädt uns die Österliche Bußzeit ein: Mit Jesus verbunden im Gebet und in der Feier der Heiligen Eucharistie, gemeinsam als Volk Gottes unseren Weg auf Ostern zuzugehen, dem Fest unserer Befreiung.
Von Herzen segne ich Sie alle im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Ihr
Unterschrift Erbischof Kard. Marx
Reinhard Kardinal Marx
Erzbischof von München und Freising München, im Februar 2014
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