Ein berührendes Zeugnis zum Thema aktive Sterbehilfe
v. Maria Elisabeth Schmidt
Zeit für eine gesunde Leidkultur
.Im Alter von 45 Jahren wurde bei meinem Mann ein Gehirntumor festgestellt; er starb mit gerade einmal 50 Jahren nach einem langen und schweren Leidensweg. Wir sind ihn gemeinsam gegangen. So paradox es klingen mag, und obwohl wir uns unser Leben, unsere Ehe völlig anders vorgestellt haben: Die tiefe Erfahrung inniger Nähe und Zwei-, oder genauer gesagt Dreisamkeit – frei von Belanglosigkeiten oder Streit und in einer für mich bis dahin unvorstellbaren Dimension – gehören mit zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens und, wie ich glaube, einem persönlichen Brief an mich entnehmen zu können, in gewisser Hinsicht sogar auch zu denen meines Mannes. Wir hätten diese gnadenreichen Erfahrungen, wie viel Liebe erfahrbar sein kann, nie machen dürfen, wenn wir Gott aus unserer Lebensplanung herausgehalten hätten, nur weil wir ihn einmal mehr nicht „verstanden“.
Natürlich hat mein Mann gerungen im Gebet, anfangs sogar sehr – dafür bin ich Zeuge – bis er den für ihn vorgesehenen Weg annehmen konnte. Natürlich fühlte er sich noch viel zu jung zu Sterben und hatte noch so viele Pläne. Nach der Annahme aber hat er seinen Weg umso beherzter gehen und durchleiden können – und dabei viele Menschen: Kinder, Erwachsene, Laien und Priester – in seinen Bann ziehen und im Glauben stärken können. Es war weiß Gott kein Spaziergang. Sein Zeugnis des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe hat viele Herzen bewegt. Und so viel Menschlichkeit um uns herum hervorgerufen, in Familie, Freundeskreis und in der Nachbarschaft.
Wir waren auch im Leid glücklich, zwar in einer anderen, aber keinesfalls weniger wertvollen Dimension, haben uns gefreut, konnten lachen, konnten weinen, unseren Glauben und unser Leben leben und waren geborgen in der sicheren Beziehung zu Gott und zueinander und konnten darin ruhen. Glück ist doch nicht nur etwas für Gesunde. Manchmal frage ich mich sogar, ob nicht sogar viel mehr Gesunde unglücklich sind...
Ich bin unendlich dankbar dafür, dass Gott uns die Gnade geschenkt hat, auf ihn bauen und im Vertrauen wissen zu können: Gott macht keine Fehler, nie, und er kennt den besten Zeitpunkt für jeden von uns. Wir haben jeden Tag gebetet, und Gott hat uns dieses unverdienbare Geschenk gewährt. Und ich will glauben, dass er diese Gnade jedem schenken möchte, der ihn darum bittet.
Und so konnte ich meinen Mann, obwohl ich immer davon geträumt habe, einmal mit ihm Goldhochzeit feiern zu können, loslassen und mich für ihn freuen, dass er nun von diesem schweren Leiden erlöst ist. Nie hätte ich einen Versuch gewagt, hier zu intervenieren. Euthanasie war für uns nie ein Thema, und wann immer ich darauf angesprochen wurde, fühlte sich das für mich sehr bedrohlich an: Ich, verantwortlich für eine unumkehrbare Entscheidung, die noch dazu nach meinem Glauben immer falsch ist – und danach den Rest meines Lebens mit der Last dieser Entscheidung alleine weiterleben müssen? Niemals, never ever. Gerade das nicht über den Zeitpunkt entscheiden müssen, und das Vertrauen-Können, war für mich das Befreiende.
Noch eine weitere bereichernde persönliche Erfahrung, die für mich bis dahin eher ein „theoretisches Wissen“ war, durfte und darf ich machen, seit ich verwitwet bin: Ich darf noch tiefer eindringen in die Kostbarkeiten, die das Ehesakrament birgt, denn da wir ja seit unserer Hochzeit eins geworden sind, glaube und erfahre ich – bildlich gesprochen –, dass mein halbes Herz dort ist, wo mein Mann ist und ein halbes Herz von ihm bei mir.
Es ist eine andere, neue Qualität der Verbindung, geschwisterlicher und, ich möchte sagen, tiefer: So gibt es beispielsweise keinen Raum mehr für Missverständnisse; auch fühle ich mich immer gekannt und verstanden. Und ich halte auf eine neue Art an ihm fest. Nie hätte ich all das auf's Spiel setzen können oder wollen!
Unsere Liebe ist durch die Krankheit eines Ehepartners ja nicht krank geworden, ganz im Gegenteil. Sie wurde immer heiler und reiner. Nicht zuletzt, weil ich auch genau das erleben durfte, was ein Priester bei seinem Besuch mit einem Zitat vom heiligen Camillus von Lellis so treffend formulierte: „Das Krankenzimmer ist in besonderer Weise die Hauskapelle, das Bett der Altar, und in Ihrem Mann begegnen Sie Christus...“. Ja, Gott ist bei den Leidenden, diese Erfahrung durfte ich jeden Tag neu machen.
Nie möchte ich all die oben erwähnten Erfahrungen missen. Bei der Trauung hat uns unser Ja nichts „gekostet“. In diesem Lebensabschnitt durchaus. Und Gott hat es gewandelt und uns das innere Glück und den Frieden geschenkt, von dem wir in der Heiligen Schrift lesen. Ich gestehe ein, diese Erfahrung ist unbeschreiblich, und darum wage ich gar nicht erst einen Versuch.
Im Hospiz habe ich, bis ich meinen Mann nach Hause geholt habe, soviel Verzweiflung, Not, Depression und Aggression miterlebt und heroischen Einsatz seitens des Personals. Ein Grund mehr für mich, dafür zu beten, dass immer mehr Menschen es wagen, sich auch im Leid auf Gott einzulassen.
Wir brauchen eine echte Leidkultur; sie ebnet den Weg hin zu einer Freukultur im paulinischen Sinn, der gesagt hat: Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Damals sprach er nicht nur zu Gesunden.
Quelle: die-tagespost.de/abo-leserbriefe